Vom Geheimnis der Entgrenzung

Hinführung zum Ruhegebet

Johannes Cassian, der Mönchsvater (360 – 435), brachte den Hesychasmus, das Gebet der Ruhe, als christliches Gebet ins Abendland. Diese frühe mönchische Spiritualität hat als eine Quelle christlichen Lebens ihre Bedeutung und Aktualität bis heute nicht verloren. Unsere christliche Gegenwart ist von tiefer Sehnsucht nach Verankerung im Glauben und Gotteserfahrung erfüllt und sucht nach alten christlichen Quellen mit überzeugenden und leicht gangbaren Wegen. Cassian war über sechzig Jahre alt, als er die dreißig Jahre zuvor mit verschiedenen Mönchsvätern in der ägyptischen Wüste geführten Gespräche zu einer Schrift zusammenfasste, die er „24 Unterredungen mit den Vätern“ (Collationes) nannte. Es ist verständlich, dass die Frucht seines zum Gebet gewordenen Lebens in die Verarbeitung der Texte einfloss. Seine eigene Lebens- und Gebetserfahrung mit dem Ruhegebet und die damit verbundene große Weite seines Bewusstseins ergänzten ganz selbstverständlich die früheren Gebetsanweisungen seiner Lehrer, zu denen vor allem Evagrius Pontikus (345 – 399) gehörte. Als großes, zusammenhängendes, ausgereiftes geistliches Erbe sind seine Gebetsanweisungen (9. und 10. Unterredung) zu verstehen, die somit nicht mehr als Stufen der Entwicklung und Annäherung an das Wesentliche zu begreifen sind, sondern ganzheitlich und allumfassend.

Das tiefste Anliegen Cassians ist es, dass der Betende in allem und durch alles in seinem Leben eine Begegnung mit dem Schöpfer erfährt, dem Urgrund allen Seins, mit Gott, der die Liebe ist. Cassian möchte seine Schüler in eine solche Weite des Bewusstseins führen, in der jede Wahrnehmung zu einer Gottesbegegnung wird. Wie Cassian in seiner Zeit durch seine gelebte Spiritualität und seine Werke, die Wissen und Erfahrung verbinden, für viele ein großer Anstoß war, so dürfte auch heute sein Ruhegebet eine Herausforderung sein, aus der Grauzone, der Routine des Alltags und der Mittelmäßigkeit des Glaubens herauszutreten, um Entgrenzung zu erfahren.

Ikone: Johannes Cassian
Johannes Cassian

Im Sinne von Cassian bedeutet Beten, alles aufgeben: Gedanken, Gottesbilder, Vorstellungen, den eigenen Willen … Es geht um ein völlig bildloses Anschauen – „mit den reinen Blicken der Seele“. Cassian beschreibt genau die Methode des Gebetes. Ein einziger kurzer Satz wird als Mittel benutzt, die nötige Stille zu erlangen. Die Fülle der Gedanken wird durch die strenge Armut eines einzigen Verses mehr und mehr reduziert. Dieser Prozess tiefer Ruhe für Körper, Geist und Seele reinigt das Nervensystem und die Psyche. Er führt somit letztlich zur Reinheit des Herzens. Durch die Übung des Ruhegebetes wird die Reinheit des Herzens zu einem andauernden Zustand, der einen entscheidenden Wendepunkt auf dem spirituellen Weg des Christen darstellt. Das Ruhegebet vermittelt intuitive Erkenntnis der Einfachheit und führt letztlich zu einem erfahrungsmäßigen Wissen um Gott.

Der Betende wird frei von unnötigem Ballast, durchlässig für den Geist Christi, sodass er seinen eigenen Weg erkennen, gehen und bejahen kann. Dieses Gebet ist ein einfaches und müheloses Gebet, das zur wirklichen, unerschöpflichen Kraftquelle führt. Das Ruhegebet bereitet den Boden, um sowohl in tieferen Gebeten mit Gott Gemeinschaft zu erfahren als auch generell Leben besser zu bestehen. Es ergibt sich ein Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität, wie wir ihn als zu Grunde liegende Ordnung in der gesamten Schöpfung erleben. Gebet und Arbeit – im ausgewogenen Wechsel – helfen, nach und nach Belastungen und Sorgen abzubauen und eine größere Stabilität wachsen zu lassen. Die aus dem Ruhegebet gewonnene Ruhe kann nicht nur helfen, den Alltag kraftvoller und sicherer zu bestehen, sondern sie schenkt auch das Gefühl der letzten Geborgenheit in Gott und somit Mut zum Loslassen.

Die Grundhaltung in diesem Gebet ist die eines Empfangenden, der sich vertrauend und „willenlos“ auf Gott ver-lässt. Die Hingabe des eigenen Willens an Gott wird eingeübt, damit – gestärkt durch seine Gabe – mit neuer Willenskraft unsere Aufgaben wieder angegangen werden können. Folgt der Betende den Anweisungen Cassians, breitet sich eine große und innere Ruhe aus. Diese Ruhe wird zum Schutz gegen neue Störfaktoren, leitet eine Entgrenzung auf Gott ein und stabilisiert Geist und Körper.

Durch das Ruhegebet verlässt der Betende sich nicht auf ein grenzenloses Nichts, sondern es ist ein Sich-Verlassen auf Jesus Christus. Aus dieser Hingabe schöpft er neue Energie, Mut und auch die Freude, seinen Lebensauftrag neu durch Ihn und mit Ihm und in Ihm zu erfüllen.

Die größten Wahrheiten und Weisheiten bringen aber keinen Nutzen, wenn sie nicht den Menschen in jeder Zeit, in jeder Sprache und mit jedem Verständnis zugänglich gemacht werden. Dass heute eine andere Sprache gesprochen werden muss als im 4. oder in jedem anderen Jahrhundert ist selbstverständlich. Es ist wünschenswert, dass das cassianische Ruhegebet nicht nur bekannter wird, sondern auch als ein Bestandteil christlichen Betens Anwendung findet.